Künstlerhaus Jan Oeltjen e. V.
Künstlerhaus Jan Oeltjen e. V.

Die hier folgenden Zeilen stammen aus dem 2005 erschienenen Textbeitrag von Volker Maeusel zur Ausstellung "Jan Oeltjen: Ich bin kein Krieger und will keiner werden".

Als der Krieg im Sommer 1914 über ein ahnungsloses Europa hereinbrach, bildete sich in allen Nationen eine merkwürdige Zustimmung heraus.1 Getragen wurde sie von einer kleinen bürgerlichen Minderheit. Deren Meinungsmultiplikatoren, insbesondere die Presse, bewirkten eine scheinbare Einmütigkeit zwischen Regierenden und Regierten. Auch Oeltjen unterlag dieser Stimmung, die man für das Deutsche Reich mit dem Schlagwort vom „Geist von 1914“ zu treffen versuchte. Weil er selbst keinen Militärdienst abgeleistet hatte, waren seine Anschauungen über militärische Angelegenheiten ganz auf die Schlagzeilen der Presse gestützt. Gerüchte über die Unzuverlässigkeit der slowenischen Bevölkerung verfehlten ihre Wirkung auf Oeltjen nicht. Allerdings flaute nach wenigen Wochen sein Interesse bereits merklich ab, bereits im Spätherbst notierte er kaum noch Kriegsereignisse in seinem Tagebuch.

Im Frühjahr 1915 vermerkte er dann seine Einberufung zunächst eher irritiert denn verärgert.2 In der Kaserne eingetroffen, wurden ihm schnell die noch ungefährlichen Widrigkeiten des Soldatenalltags bewusst. Es widerstrebte ihm, nur als Nummer und nicht als Individuum wahrgenommen zu werden; Kultur und Militär waren für ihn getrennte Welten. Er beteuerte darum eindrücklich, er sei kein Krieger und wolle keiner werden,3 weil er sich ausgerechnet für die paradoxeste Vorgehensweise entschieden hatte, um den Unannehmlichkeiten zu begegnen. Oeltjen berief sich auf sein Privileg der höheren Schulbildung und liess sich als „Einjährig-Freiwilliger“ einstufen. Bei dieser besonderen Form des Wehrdienstes konnte die Dauer auf ein Jahr reduziert werden; außerdem war er die klassische Voraussetzung, um Reserve-Offizier bzw. Offizier der Landwehr zu werden. Natürlich war für die Dauer des Krieges die verkürzte Dienstzeit aufgehoben, aber immerhin war Oeltjen nicht mehr zum Wohnen in der Kaserne verpflichtet, wenn auch die Kosten dafür seine Monatslöhnung um ein Mehrfaches überstiegen. Es ist anzunehmen, dass Oeltjen zu diesem Zeitpunkt noch von einer relativ kurzen Dauer des Krieges ausging; er beabsichtigte, sich als Reserveoffiziers-Bewerber zu melden, um während der entsprechenden Ausbildung nicht an die Front kommandiert zu werden. Selbst vor ungesetzlichen Mitteln wollte er nicht zurückscheuen, um eine Untauglichkeit durchzusetzen. Sein Stammtruppenteil, das Königlich Bayerische Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 2, war nämlich seit geraumer Zeit in die blutigen Kämpfe in den Vogesen verwickelt. Dort wurden von beiden Seiten neben einigen Elitetruppenverbänden wie Gebirgsjägern vornehmlich Truppen minderer Qualität eingesetzt. Für Oeltjens Regiment traf voll und ganz zu, was ein zeitgenössischer Kindervers wie folgt ausdrückte: „Bärt`ge Männer, alte Knaben – Landwehr liegt im Schützengraben“4. Im Sommer 1915 war vom II. Bataillon, dem er zugeteilt wurde, nur noch ein knappes Drittel der Soldaten einsatzfähig. Der Rest war tot, verwundet, vermisst oder erkrankt. Die Gegend um Colmar kannte Oeltjen aus früherer Zeit. Bereits Anfang des Jahrhunderts hatte er die Vogesen bereist und ein überwältigendes Erlebnis im Angesicht des Isenheimer Altars gehabt. Die Lebensbedingungen, die er in den Schützengräben und Reservestellungen vorfand, unterschieden sich fundamental von seinem damaligen Leben. Hatten zunächst noch die kleineren Städte wie Colmar als Garnisonsorte zur Verfügung gestanden, so wurde diese Maßnahme mit zunehmender Dauer des Krieges eingeschränkt. Die Soldaten, die vorgeblich den sittlichen Gefährdungen der Etappe entzogen werden sollten, wurden in Waldlagern aus Hütten und Zelten untergebracht. Oeltjen war dort eingeschränkt in allen Belangen, in ständiger Gefährdung durch feindliches oder eigenes Feuer5 und mangelnde Hygiene. Zudem rangierte er in der militärischen Hierarchie an unterster Position, was ein Übermaß an Tätigkeit bedeutete. Unter diesen Bedingungen zu zeichnen und zu malen war nur möglich, weil ihm ein verständnisvoller Vorgesetzter die Zeit dafür einräumte. Immerhin zwei Stunden täglich war Oeltjen vorübergehend der maschinellen Verrichtung stupider Tätigkeiten enthoben, obgleich ihm selbst bei der künstlerischen Tätigkeit noch Auflagen gemacht wurden. Seitens der Armeeführung bestand ein Interesse an verwertbaren Bildern, die sich thematisch mit der gängigen Heldenmotivik in Einklang bringen ließen. Auf dieses prinzipiell bestehende Ansinnen ließ Oeltjen sich nicht weiter ein.

Anderen Bedingungen konnte er sich jedoch nicht entziehen. Die maximale Papiergröße war ihm zwangsläufig vorgegeben, denn er musste seinen Block ebenso wie die anderen Gerätschaften im Tornister verstauen; an eine Staffelei war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Die Versorgung mit Farben, Pinseln und Papier musste Oeltjen für sich komplett über die Feldpost organisieren. Der Mangel an bestimmten Farben schränkte dabei seine Farbigkeit ein, bis den Aquarelle durchweg eine blau-grüne Tönung zu Eigen wurde.

Die Auswirkungen der Frontkommandierung auf Oeltjens innere Einstellung zum Krieg lassen sich bereits nach wenigen Wochen belegen. Im Vorjahr hatte er noch unter dem Eindruck der patriotischen Phrasen seiner Umgebung und der Presse angesichts eines Feldpostbriefes vom Freund eines Künstlerkollegen gespottet, dem Mann gehe jedes Gefühl oder Verstehen von der Grösse einer gemeinsamen Handlung eines Volkes ab. Nur knapp vier Wochen in der desillusionierenden Kriegswirklichkeit gefangen, leistete er Abbitte, indem er eingestand, dieser Brief drücke nun genau seine Empfindungen aus.6

Mit der Zeit gewöhnte sich Oeltjen an das Leben im Feld. Über Postenstehen, Schanzen und Gefechtstätigkeiten kann heute auf der Grundlage seiner Aufzeichnungen keine Aussage getroffen werden. Aber lebensbedrohlichen Situationen war er ausgesetzt, wenn er auch bemüht war, seiner Frau gegenüber dies zu verharmlosen. Neben dieser existentiellen Erfahrungswelt lässt sich der Raum seiner übrigen Erlebnisse leichter umreißen: Oeltjen wurde zu Ausbildungskursen kommandiert, befördert und selbst Vorgesetzter; er bekam dadurch mehr Muße und widmete sich intensiv seinen Aquarellen und Zeichnungen. Hatte er zunächst noch gegen „Motivjäger“ geurteilt, so begann er allmählich, die Personengruppierungen seiner Umgebung als reizvolle Herausforderung zu betrachten. Außerdem vervollkommnete er seine Fähigkeiten beim Aquarellieren und begann, souveräne Portraits in dieser Technik zu schaffen. Diese Soldatenportraits stellen einen bleibenden Höhepunkt seines Schaffens im Krieg dar. Es ist aber zu vermuten, dass ihre besondere Qualität weniger einem neuen Bildnisverständnis entsprang, als vielmehr der ausgeprägten Bekanntschaft zwischen Künstler und Modell.

Es gilt an dieser Stelle, die vorgebliche künstlerische Vereinsamung Oeltjens wegen der Kulturlosigkeit des soldatischen Milieus in das Reich der Legende zu verweisen. Die Soldaten der Landwehr-Verbände waren durchweg Männer von über 30 Jahren. Es gab somit auch eine durchaus hohe Anzahl unter ihnen, die entweder in kulturell relevanten Berufen etabliert oder zumindest dem herkömmlichen wilhelminischen Kunstkanon zugeneigt waren. Außerdem waren viele Münchener in diesen Verband eingezogen worden, deren großstädtischer Hintergrund sich auch auf ihre Anschauungen über Kunst erstreckte. In Oeltjens Regiment gab es mindestens ein halbes Dutzend Künstler, deren Qualitäten wenigstens zu einem Austausch mit ihm auf fachlicher Ebene gereicht hätten, wenn sie vielleicht auch in Richtungsfragen unversöhnlich gewesen wären.7 Es wird in der deutschen Armee wenig Verbände mit so vielen akademisch geschulten Künstlern gegeben haben. Dabei reichte ihre praktische Betätigung von der privaten Arbeit (wie bei Oeltjen) bis hin zur halboffiziellen Beschäftigung bei Front- und Schützengrabenzeitungen8 sowie Theateraufführungen. Unlängst ist untersucht worden, inwieweit die Feld- und Schützengrabenzeitungen als Institutionen der Meinungslenkung seitens der Armeeführungen betrachtet wurden.9 Unabhängig von dem Ausmaß der Instrumentalisierung durch die Truppenführung kann konstatiert werden, dass es um Oeltjen herum ein kulturelles Milieu gegeben hat, dem er sich ansatzweise verweigerte, das aber andererseits so ausgeprägt wirkte, dass auch ihm dadurch Freiräume verschafft wurden. Seine Arbeiten wurden in dieser Zeit von Cassirer in Berlin und Goltz in München präsentiert. Das zwei der bedeutendsten avantgardistischen Galerien des deutschen Reiches ihn ausstellten, gab Oeltjen das beruhigende Gefühl, sich als Künstler anerkannt zu fühlen. Ihm war allerdings bewusst, dass seinen Arbeiten der Reiz anhaftete, „aus der vordersten Linie zu kommen“.10 Vor diesem Hintergrund müssen Oeltjens Bemühungen betrachtet werden, eine Zulassung als offizieller Kriegsmaler zu erlangen. Die Gründe für sein Scheitern bei diesem Unterfangen sind leicht aufgezählt: Weder im Königreich Bayern noch im Großherzogtum Oldenburg wollten sich einflussreiche Befürworter finden lassen; Oeltjens Aufenthalt in der steiermärkischen Heimat seiner Frau wirkte in dieser Hinsicht ebenso kontraproduktiv wie seine aus ganz anderen Gründen angestrebte Offizierslaufbahn.11

Wenn bisher die Betonung auf Aquarellen und Zeichnungen gelegen hat, dann darf nicht vergessen werden, dass Oeltjen die Zeichnungen vielfach nur als Rohentwürfe für spätere Ausführungen in anderen Techniken ansah. Bis zum Dezember 1916 hatte er den Stoff für mindestens drei graphische Zyklen angesammelt. Es hat den Anschein, ein weiterer Zyklus sei bis heute unbekannt geblieben und nur aus den schriftlichen Äußerungen überhaupt zu erkennen. Vorherrschend war ein erotischer Motivkreis, der sich aus Oeltjens Sehnsucht nach einer friedlichen und freien Zeit speiste.

In die alltäglichen Verhältnisse Oeltjens war eine bescheidene Bequemlichkeit eingetreten. Als Zugführer war seine unmittelbare Dienstbelastung seit dem Sommer deutlich reduziert. Eine mit einer Beförderung einhergehende, verschließbare Kiste bot ihm Anlass zur Freude: In ihr konnte er größere Papierformate aufbewahren und lagern. Erstmals konnte er sich somit auch ein wenig Privatsphäre schaffen. Er war seit über einem Jahr in einer Umgebung stationiert, die landschaftlich reizvoll war und an die er sich mit ihren Gipfeln und Aussichten gewöhnt hatte; selbst die Stellungen waren wie die Ruhelager vertraut geworden und durch die stark ausgebauten Befestigungen hatte auch die unmittelbare Gefährdung abgenommen. Allerdings besaß der gestandene Vizefeldwebel, der sich um sein Prestige sorgte, weil ihm noch nicht das Eiserne Kreuz verliehen worden war, auch nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem verzagten Gemeinen, der kein Krieger hatte sein wollen.

In diese Verhältnisse brach eine jähe Veränderung hinein.

 

Als die Schlachten des Jahres 1916 die Überlegenheit tief gestaffelter Verteidigungsstellungen bewiesen hatten, betrieb die Oberste Heeresleitung (OHL) im Westen eine „Rationalisierung [...] um die Truppen für den Einsatz an anderen Fronten einzusparen“12. Von der ruhigen Vogesenfront wurden die nicht sonderlich schlagkräftigen Verbände, zu denen auch Oeltjens Regiment gehörte, abgezogen und an andere Fronten verlegt. An der Ostfront waren die erfolgreichen Offensiven zum Stehen gekommen; im ihrem südlichen Bereich war gerade zur Jahreswende Rumänien erobert worden und wurde dem von den Mittelmächten verwalteten Wirtschaftsraum einverleibt. Im nördlichen Abschnitt, dem so genannten Land Ober-Ost, führte sich die deutsche Besatzungsmacht als „direkter Kolonialherr“ auf.13 Die Ursachen dafür sind in einem propagandistisch vermittelten Gefühl kultureller, wirtschaftlicher und moralischer Überlegenheit zu suchen, mittels dessen sich die deutsche Truppenführung vor der Fremdartigkeit der Landschaft und ihrer Bevölkerung zu erwehren suchte. Die herkömmlichen Vorstellungen versagten angesichts der unerwarteten Weite des Raumes und der neuartigen Erfahrung der heterogenen Zusammensetzung seiner Völker.14

Oeltjens neue Stellung lag unmittelbar am Ufer des Flusses Düna in Lettland. Direkt gegenüber, auf der nördlichen Flussseite, befanden sich die Stellungen der russischen Soldaten. Im Vergleich zu den Vogesen, wo sich die feindlichen Stellungen teilweise bis auf Handgranatenwurfweite einander genähert hatten, bot die an manchen Stellen mehrere hundert Meter breite Düna eine relative Sicherheit, wenn sie auch in einer Stärke zugefroren war, dass man sie sogar mit Fuhrwerken und Fahrzeugen überqueren konnte. Weit im Westen und Osten von Oeltjens Abschnitt hatten russische Truppen noch das südliche Ufer besetzt; die Ausdehnung des Flusses verhinderte aber im Abschnitt seines Regimentes eine unmittelbare Gefährdung. Oeltjen war im Winter in Lettland eingetroffen. Die Temperaturen waren mit 30 Minusgraden extrem niedrig und die mangelhaft ausgebauten Stellungen boten nur wenig Schutz vor der Kälte. Die Unmittelbarkeit der sogar lebensbedrohlichen Natur war für die Soldaten „im Osten“ (genauer durften sie in der Feldpost ihren Einsatzort nicht mitteilen) ein verbindendes Erlebnis und prägte ihre Fronterfahrung.15

Drei Jahreszeiten lang blieb Oeltjens Aussicht auf die Landschaft in ihren Ausschnitten unverändert. Entweder befand er sich in einer Stellung in den Dünen der Uferböschung oder in einem der ungeheuer ausgedehnten Waldgebiete, wo die Ruhelager bezogen wurden. Zwischen diesen Landschaftsextremen erstreckten sich weite Flächen, die nur sporadisch landwirtschaftlich genutzt wurden, weil sie über große Strecken versumpft waren. Es verwundert nicht, dass in diesem Zusammenhang der Begriff “Reiz“ in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen zu einem Schlüsselwort in Oeltjens Tagebuch gerät. Oeltjen gierte regelrecht nach reizvollen Motiven und sollte solche in einem beeindruckenden Naturspektakel präsentiert bekommen. Die Schneeschmelze und der Temperaturanstieg im Frühjahr ließen die Eisschicht auf der Düna aufbrechen. Die Schollen mit einer Stärke von mehr als anderthalb Metern trieben jedoch nicht ruhig ab. Sie verkeilten und verkanteten sich vielmehr, schoben sich übereinander und stauten als gigantischer Eiswall den Fluss auf, bis er über die Ufer trat. Dieses Phänomen war kurz vor Ostern 1917 in besonderer Stärke aufgetreten und überraschte die Soldaten beider Seiten in ihren von eiskaltem Hochwasser und tonnenschweren Eisblöcken bedrohten Schützengräben. Die Bilder dieser Stunden faszinierten Oeltjen in einem Maß, dass er den gleichzeitigen Kriegseintritt der USA in keiner Weise kommentierte (obwohl dieses Ereignis ihm hinlänglich Stoff geboten hätte, gegen die Politik der „Teutschen“ zu räsonieren). Ein ganzes Jahr ließen die Bilder, die Oeltjen im Kopf hatte, sich nicht bewältigen, dann schuf er in kürzester Zeit eine ganze Folge von Zeichnungen, die er nach dem Krieg in Lithographien umsetzen wollte. Er hatte sich vorgenommen, nach dem Krieg „graphisch [...] eine Masse zu tun“ und bezog dies auch auf eine heikle Gruppe von Bildern, die zunehmend in den Mittelpunkt seines Schaffens traten.

Oeltjen betrieb zu Zeiten einen regelrechten Körperkult, fastete und trieb Sport, als das noch eine Beschäftigung von wenigen war. Für ihn gehörte dies zur sinnlichen Komponente des Lebens, vor der er keine Scheu hatte und die ihm angesichts der sinnenfeindlichen Wirklichkeit des Krieges zu einer Ausflucht in eine moralisch höherstehende Sphäre nötig war. Er empfand es als normal zu onanieren und stellte wiederholt fest, dass er danach zu geistig regerer Arbeit fähig war. Seine Notizen darüber sind hier ungekürzt abgedruckt. Eine Streichung dieser zugegeben äußerst intimen Passagen wäre im Hinblick auf die darin enthaltenen künstlerischen Aussagen nicht gerechtfertigt gewesen und hätte manchen Abschnitt in absurder Weise entstellt.

Es sei daher zumindest ansatzweise der Frage nachgegangen, ob das Tagebuch überhaupt der Öffentlichkeit preisgegeben werden darf. Oeltjen selbst äußerte sich nur bedingt dazu. Wie selbstverständlich las er seinerseits die Tagebücher von Grillparzer und Tolstoi - nach der Lektüre von Tolstois Tagebuch zeigte er sich überrascht, dass er für den Autor nun ein neues Interesse habe und grenzte sich dabei gegen ihn ab, indem er für sich selbst konstatierte, vergeistigte Sinnenfreude sei der schönste Lebensinhalt.16 Ausdrücklich betonte er, nur Einträge in sein „Büchl“ vorzunehmen, wenn er auch etwas zu sagen habe; an anderer Stelle forderte er Elsa regelrecht auf, sein Tagebuch zu lesen.17 Außerdem gibt es Passagen, in denen der bewusste Einsatz von literarischen Stilmitteln praktiziert wurde.18 Somit ergibt sich in der Summe der Eindruck, dass Oeltjen sein Tagebuch im Bewusstsein einer späteren Offenlegung schrieb, zumal er die Hefte seiner Aufzeichnungen über Jahrzehnte hin sorgfältig aufbewahrte.19

Die sexuelle Anspannung, unter der Oeltjen stand, hatte zwei Ursachen. Die Trennung von seiner Frau war offenkundig für ihn nicht nur ein seelisches sondern auch ein körperliches Problem. Dies konnte aber nur offenbar werden, weil die Gefechtstätigkeiten an der Front sich im Laufe des Jahres 1917 auf ein Minimum reduzierten. Der vordringlichste Trieb der Menschen, individuell zu überleben, konnte somit Platz machen für sekundäre Verhaltensweisen und Bedürfnisse.

Den großen Düna-Übergang im September 1917, als der Stellungskrieg an der Ostfront ein vorletztes Mal jäh in einen Bewegungskrieg überführt wurde,20 machte sein Regiment an einem nebengeordneten Abschnitt mit; zunächst hatte es einen Übergang über den Fluss nur vorzutäuschen. Als die flussabwärts gestartete Offensive erfolgreich verlief, wurden lediglich zwei seiner zwölf Kompanien einem anderen Verband detachiert, der im eigenen Abschnitt über den Fluss setzen und die russischen Verbände zurückdrängen sollte. Oeltjen war als Leutnant und Zugführer der 7. Kompanie daran beteiligt und erlebte zu seinem Entsetzen, wie das bisher russische Gebiet regelrecht ausgeplündert und die Bevölkerung drangsaliert wurde. Aus dieser Zeit stammen die ersten Bilder, in denen er die lettischen Bewohner der Landschaft abbildete. Zuvor, auf der Südseite der Düna, hatte er keinen Kontakt zur eigentlichen Bevölkerung des Landes gehabt.

Der Zerfall des Russischen Reiches hatte für Oeltjen unmittelbar zur Folge, den Gefährdungen des Krieges entzogen zu sein. Er gehörte zu den Besatzungstruppen, die bis in den Herbst 1918 die Kontrolle über die ehemals russischen Gebiete ausübten. Zusehends fühlte sich Oeltjen vom Auftreten der Offiziere seiner Umgebung angewidert, weil er in ihnen die Verkörperung dessen sah, was er „teutsch“ nannte; er erachtete sie für grob, oberflächlich und taktlos. Er wagte es jedoch nicht, sich deutlich von ihnen abzugrenzen, weil er bei Unbotmäßigkeit eine Versetzung an die Westfront befürchtete. Dort wurden die letzten Reserven in den von den Soldaten als sinnlos angesehenen Offensiven des deutschen Heeres verheizt. Als er gemeinsam mit seinem Regiment im Oktober doch noch nach Lothringen transportiert wurde, kommentierte er beinahe vergnügt, die militärische und politische Lage scheine so schlecht wie nie und er denke und male völlig kriegsfremde Bilder.21 Zwei Monate später konnte er mit seiner Frau die Wiederaufnahme ihres zivilen Lebens beginnen. Der Krieg mit all seinen Begleiterscheinungen hatte allerdings ihr Leben in so hohem Maß aus der ihnen einst vorgeschwebten Bahn geworfen, dass sie sich darin bewähren mussten, inwieweit sie diese Entfremdung verdrängen konnten. Jan Oeltjen scheiterte dabei zunächst, die Ehe litt unter fundamentalen Auflösungserscheinungen. Seine künstlerische Aufgabe, die er sich während des Krieges gestellt hatte, die graphische Aufarbeitung der in Skizzen vorhandenen Motivkreise nahm die nächsten Jahre in Anspruch. In seinen Ölgemälden lassen sich darüber hinaus noch bis zum Ende der zwanziger Jahre Ideen und Bilder vornehmlich seiner Zeit in Lettland nachweisen.

1 Die derzeit brauchbarsten allgemein gehaltenen Überblicke über den Ersten Weltkrieg sind: Michael Howard: Kurze Geschichte des Ersten Weltkriegs. München/Zürich, Piper 2002; Roger Chickering: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg. München, Beck 2002; Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges. Hg. von Rainer Rother. Berlin, Deutsches Historisches Museum 1994 (= Ausstellungskatalog). Zu den militärischen Ereignissen siehe: John Keegan: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie. Reinbek, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001; speziell für die militärische Beteiligung Bayerns nach wie vor: Die Bayern im großen Kriege 1914-1918. Hg. vom Bayerischen Kriegsarchiv. München, Verlag des Bayerischen Kriegsarchivs 1923.

2 Die Diskrepanz, die zwischen Datumseinträgen seines Tagebuches und solchen seiner Personalakte besteht, muss aus dem schriftlichen Einberufungsverfahren heraus verstanden werden.

3 Tagebucheintrag vom 3.6.1915.

4 Vater ist im Kriege. Ein Bilderbuch für Kinder. Hg. von der Kriegskinderspende deutscher Frauen. Berlin, Hilger o. J. Unpaginiert.

5 „Die fortgesetzten Verluste durch die eigene Artillerie schadeten dem Halt der Truppe mehr, wie die Kämpfe selbst.“ In: Das K. B. Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 2. S. 77.

6 Vgl. Tagebuch-Eintrag 8.12.1914; Jan Oeltjen an Elsa Oeltjen-Kasimir, Brief vom 9.9.1915.

7 In alphabetischer Reihenfolge: Ludwig „Wiggerl“ Greiner (1880-1956), Karikaturist; Georg Höhmann (möglicherweise 1883-1974), Maler; Josef Kopp (1877-?), Bildhauer, Akademie München; Anton Reinbold (1881-1968), Maler, Akademie München; Karl Röhrig (1886-1972), Bildhauer, Akademie München; Hans Stadelmann (1876-?), Maler, Akademie München; Hermann Stenzel (1887-1961), Maler und Schriftsteller.

8 Die bayerische Landwehr. Hg. von Angehörigen des bayerischen Landwehr-Infanterie-Regiments Nr. 2; Der bayerische Landwehrmann. Hg. von Feldwebel Edmeier beim Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 2. Zu diesen Zeitungen siehe auch: Die deutschen Schützengraben- und Soldatenzeitungen. Hg. von Fred B. Hardt. München, Piper 1917; Karl Kurth: Die deutschen Feld- und Schützengrabenzeitungen des Weltkrieges. Leipzig, Universitätsverlag Noske 1937.

9 Anne Lipp: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914-1918. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 159).

10 Jan Oeltjen an Elsa Oeltjen-Kasimir, Brief vom 8.9.1916.

11 Ernst Aichner: Die Haltung des Bayerischen Kriegsministeriums bei der Zulassung von „Kriegsmalern“ in den Jahren 1906 bis 1918. In: Der Erste Weltkrieg. Zeitgenössische Gemälde und Graphik. Hg. von Ernst Aichner. Ingolstadt, Donau Kurier 1980 (Ausstellungspublikation; Veröffentlichungen des Bayerischen Armeemuseums 1). S. 11-20.

12 John Keegan: Der Erste Weltkrieg. S. 435.

13 Roger Chickering: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg. S. 108.

14 Dazu erst kürzlich: Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg, Hamburger Edition 2002.

15 Ebda. S. 192.

16 Tagebucheintrag vom 29.6.1918.

17 Tagebucheintrag vom 7.2.1918.

18 Siehe die Alliteration auf „Z“ im Tagebucheintrag vom 2.6.1917.

19 Die Historiographie hat dieses Problem prinzipiell dahingehend entschieden, dass die Quellengruppe der Kriegstagebücher und Feldpost zu wertvoll sei, um ignoriert werden zu können. Vgl. Bernd Ulrich: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933. Essen, Klartext 1997 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte NF 8). Hier insbesondere S. 12 ff.

20 Ein literarischer Augenzeugenbericht von den militärischen Ereignissen beim Düna-Übergang ist zu finden bei: Dominik Richert: Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914-1918. Hg. von Angelika Tramitz und Bernd Ulrich. München, Knesebeck & Schuler 1989. S. 257 ff; sowie in: „Jetzt geht’s in die Männer mordende Schlacht...“ Das Kriegstagebuch von Theodor Zuhöne 1914-18. Hg. von Jürgen Kessel. Damme, Hard & Soft 2002 (= e-books des Heimatvereins “Oldenburgische Schweiz” 1). Vgl. den Eintrag vom 1.9.1917: „Der Düna-Übergang war in der Tat eine der schönsten Stunden im Feldzuge.“

21 Tagebucheintrag 5.10.1918.

Literatur- und Quellenangaben

Kurth, Karl: Die deutschen Feld- und Schützengrabenzeitungen des Weltkrieges. Leipzig, Universitätsverlag Noske 1937.

Das K. B. Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 2. Nach den amtlichen Kriegstagebüchern bearbeitet von Otto Ritter von Hübner. München, Selbstverlag des bayerischen Kriegsarchivs 1923 (= Erinnerungsblätter deutscher Regimenter. Bayerische Armee 19).

Lexikon deutschbaltischer bildender Künstler. 20 Jahrhundert. Hg. von Kuno Hagen unter Mitarb. von Margarete Hagen. Köln, Wissenschaft und Politik 1983.

Lipp, Anne: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914-1918. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 159).

Liulevicius, Vejas Gabriel: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg, Hamburger Edition 2002.

Natter, Tobias G.: Die Galerie Miethke. Eine Kunsthandlung im Zentrum der Moderne (= Ausstellungskatalog). Wien 2003.

Jan Oeltjen 1880-1968. Ein Maler zwischen Jaderberg und Ptuj. Hg. von Ruth Irmgard Dalinghaus und Peter Reindl. Oldenburg 1993 (= Ausstellungskatalog).

Oeltjen, Jan: Skizzenbuch im Felde 1915-1916; CD-ROM. Bearb. von von Volker Maeusel. Jaderberg 2005 (= Veröffentlichungen des Künstlerhauses Jan Oeltjen e. V., Digitale Reihe Nr. 1).

Richert, Dominik: Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914-1918. Hg. von Angelika Tramitz und Bernd Ulrich. München, Knesebeck & Schuler 1989.

Segal, Joes: Krieg als Erlösung. Die deutschen Kunstdebatten 1910-1918. München, scaneg 1997 (= punctum 11).

Sombart, Werner: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München/Leipzig, Duncker und Humblot 1915.

Stöver, Krimhild: Jan Oeltjen 1880-1968. Ein Malerleben zwischen Oldenburg und Slowenien. Bremen, Hauschild 1992.

Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges. Hg. von Rainer Rother. Berlin, Deutsches Historisches Museum 1994 (= Ausstellungskatalog).

Ulrich, Bernd: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933. Essen, Klartext 1997 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte NF 8).

Vater ist im Kriege. Ein Bilderbuch für Kinder. Hg. von der Kriegskinderspende deutscher Frauen. Berlin, Hilger o. J. Unpaginiert.

Altarbild in Jade. Aufzeichnungen von Pastor Volkers. Kopien im Besitz des Künstlerhauses Jan Oeltjen.

„Jetzt geht's in die Männer mordende Schlacht..." Das Kriegstagebuch von Theodor Zuhöne 1914-18. Hg. von Jürgen Kessel. Damme, Hard & Soft 2002 (= e-books des Heimatvereins "Oldenburgische Schweiz" 1).

Unselbstständig erschienene Literatur:

Aichner, Ernst: Die Haltung des Bayerischen Kriegsministeriums bei der Zulassung von „Kriegsmalern" in den Jahren 1906 bis 1918. In: Der Erste Weltkrieg. Zeitgenössische Gemälde und Graphik. Hg. von Ernst Aichner. Ingolstadt, Donau Kurier 1980 (Ausstellungspublikation; Veröffentlichungen des Bayerischen Armeemuseums 1). S. 11-20.

Dalinghaus, Ruth Irmgard: Jan Oeltjen – Leben und Werk – ein selbsttherapeutischer Akt. In: Jan Oeltjen 1880-1968. Ein Maler zwischen Jaderberg und Ptuj. Hg. von Ruth Irmgard Dalinghaus und Peter Reindl. Oldenburg 1993 (= Ausstellungskatalog). S. 9-99.

Gäßler, Ewald: Die Holzschnitte von Jan Oeltjen. In: Jan Oeltjen 1880-1968. Das druckgraphische Werk. Hg. von Ewald Gäßler/Luise und Lür Steffens. Oldenburg 1997 (= Ausstellungskatalog; Veröffentlichungen des Stadtmuseums Oldenburg 28; Veröffentlichung des Künstlerhauses Jan Oeltjen e. V. 14; im Text zitiert als: Werkverzeichnis Druckgraphik). S. 171-194.

Hollweg, Ullrich: Jan Oeltjens Lithographien – die Zyklen „Sonntag" und „Die Entlausung". In: Jan Oeltjen 1880-1968. Das druckgraphische Werk. Hg. von Ewald Gäßler/Luise und Lür Steffens. Oldenburg 1997 (= Ausstellungskatalog; Veröffentlichungen des Stadtmuseums Oldenburg 28; Veröffentlichung des Künstlerhauses Jan Oeltjen e. V. 14; im Text zitiert als: Werkverzeichnis Druckgraphik). S. 135-151.

Papies, Hans Jürgen: >Ich habe diesen Krieg längst in mir gehabt< - Selbstzeugnisse bildender Künstler. In: Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges. Hg. von Rainer Rother. Berlin, Deutsches Historisches Museum 1994 (= Ausstellungskatalog). S. 85-108.

Reindl, Peter: Bildnisse, Porträts und wieder Selbstbildnisse – das Bild des „neuen Menschen" bei Jan Oeltjen. In: Jan Oeltjen 1880-1968. Ein Maler zwischen Jaderberg und Ptuj. Hg. von Ruth Irmgard Dalinghaus und Peter Reindl. Oldenburg 1993 (= Ausstellungskatalog). S. 101-194.

Rubiner, Ludwig: Vorwort. In: Zeit-Echo 3 (1917) 1.-2. Maiheft. S. 2; 24.

URL-Nachweise aus dem world wide web, letzter geprüfter Aufruf am 19.06.2005:

www.lsg.musin.de/Geschichte/wr/Weimarer Republik Projekt/1914Ultimatum Serbien Dt.htm

http://www.rk19-bielefeld-mitte.de/info/Recht/Haager_Landkriegsordnung/22-28.htm

http://www.rk19-bielefeld-mitte.de/info/Recht/Haager_Landkriegsordnung/29-31.htm

http://www.zum.de/psm/imperialismus/hunnen.php

http://www.kunstgeschichte.uni-freiburg.de/Gross/Voegetext.html

http://www.gnomon.ku-eichstaett.de/LAG/mommsen.html

http://sophie.byu.edu/literature/cloeter/gestern04.htm

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