Künstlerhaus Jan Oeltjen e. V.
Künstlerhaus Jan Oeltjen e. V.

Oeltjen war, wenngleich er sich stets als schreibfaulen Menschen stilisierte, ein ungeheuer produktiver Briefeschreiber. In einer Zeit, da schriftliche Kontakte allein die räumliche Trennung zwischen Gesprächspartnern überbrücken konnten, gibt es zwar etliche Schriftstücke, die sich allein um die banalen Dinge des Alltags drehen, aber insgesamt hat Oeltjen neben seinem Werk als Maler und Graphiker ein nicht minder zu bewertendes schriftliches Werk hinterlassen. Vier Korrespondenzen sind es vornehmlich, die bei aller bei aller schriftlichen Formhaftigkeit im Ausdruck einen erstaunlich tiefen Eindruck in Oeltjens Geist geben: die Briefe und Karten an seine Familie, der jahrzehntelange schriftliche Austausch mit seiner Frau, sowie zwei Korrespondenzen mit Künstlerkollegen: Adolf Schinnerer und Gerhard Marcks.

 

Darüberhinaus hat Oeltjen über lange Jahre seines Lebens Tagebuch geführt. Die Regelmäßigkeit der Einträge ist dabei schwankend und reicht von mehreren Einträgen täglich bis zu äußerst summarischen Zusammenfassungen für einen Zeitraum von Wochen und Monaten.

 

Als Quellen sind seine schriftlichen Hinterlassenschaften kaum zu überschätzen.

 

Das folgende Beispiel fällt etwas aus dem Rahmen. Üblicherweise schrieb Oeltjen seine Tagebücher in Notizbücher und nicht auf einzelne Seiten. Die Passagen fallen auch dadurch auf, dass die Rechenschaft, die Oeltjen hier ablegte, durchaus auch zur Korrespondenz mit seiner Frau getaugt haben mochte, vor allem durch die direkte Anrde, die am Ende mehrmals erscheint.

Bei diesen Tagebuchseiten handelt es sich um die passend zusammengefassten Seiten eines Konvolutes einzelner Tagebuchseiten, die alle von Jan Oeltjen handgeschrieben wurden. Sie wurden mit schwarzer Tinte auf ein qualitativ gutes Papier geschrieben. Bei diesem Büttenpapier handelt es sich vermutlich um Blätter aus einem Aquarell- oder Skizzenblock. Das Papier hat im Laufe der Jahre eine minimale Bräunung erfahren, befindet sich jedoch insgesamt in einem tadellosem Zustand.

 

Zur Provenienz: Diese Seiten befinden sich in Privatbesitz; erhalten hat sie der derzeitige Besitzer nach eigener Aussage von der Urenkelin von Jan Oeltjen.

 

Kursiv gesetzte Stellen sind im Original gestrichen; [eckige Klammern] stammen wie die Endnoten vom Bearbeiter Volker Maeusel.

 

 

1910

 

23. Nov.[ember] 19101 [Mittwoch], Pettau. Elsa begleitete mich von Varea immer weiter - den Berg hinunter, über St. Veit hinaus, bis zur Linde. Rings weisser Schnee und Sonne.

Mittags 12 ¼ nahmen wir Abschied von einander. Wir wissen nicht, ob wir uns wiedersehen.

 

24. [November 1910, Donnerstag] Wien. Viele neue Menschen gesehen.

 

25. [November 1910] Freitag, Urbani-Keller.2

 

28. [November 1910, Montag] Kein Brief. Traurig und gedrückt. Unruhe!

 

29. [November 1910, Dienstag] Im Gartenhaus des Bruders3 E.s, wie an den meisten Tagen. Ich stand an den Schreibtisch gelehnt. Plötzlich höre ich: heute Abend kommt Elsa. Ich sinke zusammen u. werde blass. Kann meine Bewegung kaum verbergen.

Um 9 Uhr holte ich E. von der Bahn ab. -

 

30. [November 1910] Mittwoch. Mit Elsa am Vormittag im Hagenbund.4 Hettner.5 Am Nachmittag lange zusammen im Café. In der Sezession Frauenkunst. Von 10 bis ½ 11 allein beisammen im Gartenhaus.

 

1. Dez.[ember 1910, Donnerstag] Zusammen Mittag. Café. Unsere Hände mussten sich berühren. Wir gehören zusammen.

Rembrandt: Freude an denselben Blättern. Über Klimt6 u. Cezanne7 keine Einigkeit.

 

6. Dez.[ember 1910, Dienstag. Die erste Zeile ist annähernd vollständig gestrichen, in einer sehr heftigen Manier. Erkennbar sind allein die ersten Buchstaben „E.s“, der Rest entzieht sich jeglicher Lesbarkeit.] Morgen kommt P..8 Wir sahen miteinander frühe deutsche Stecher an. Meister E. L., Meister der Liebesgärten. Van Gogh in der modernen Galerie.9 Wir freuten uns, an denselben Werken Gleiches zu empfinden. [Der folgende, letzte Satz dieses Eintrags ist ebenfalls gestrichen, sogar mit zwei verschiedenen Tinten, und rasiert oder sehr heftig radiert worden. Erkennbar sind die ersten zwei Worte: „Soll das“.]

 

7. Dez.[ember] Mittwoch Vor einem schönen geschorenen Rasen am Nordbahnhof haben wir uns Lebewohl gesagt. Elsa verschwand zwischen den Menschen. Es war zwei Uhr. Die Sonne schimmerte durch Streifengewölk.

6 Uhr - wo wird Elsa sein? Was für Kämpfe werden in ihr sein. Ich ging langsam durch die Stadt. Ich wusste von nichts. Lag auf meinem Bett. Alles schien kalt und freudlos. [Der nächste Satz dieses Eintrags wurde ebenfalls in der bekannten Manier gestrichen und rasiert, erkennbar sind nur die ersten zwei Worte: „Ich wollte“.]

Gestern Abend gingen wir bei Sievering10 spazieren. Wir waren verliebt in unsere gleiche Freude an den Häuschen und Gassen und an der Dämmerung zwischen den Bäumen am Bach.

Es ist neun Uhr. Wo bist Du? Was hast Du gesprochen und gedacht? Du musst mir etwas sagen, bevor ich nach Berlin fahre. - Meine Liebe zu Dir soll mich gesund und tätig machen. Ich will arbeiten für uns und wir wollen uns ein grosses Glück suchen, weil wir uns lieben. - Und ich weiss nicht, ob Du zu mir kommen kannst.

 

8. Dez.[ember] 1910 Donnerstag. Um 911 Uhr Morgens im Café Bürgertheater12 sagte mir E., dass sie zu mir gehöre. - - Wir gingen durch die Prateranlagen bei schöner Sonne. - -

Jetzt ist, was ich tue, nicht mehr für mich allein.

Elsa und ich sind nun eine Welt.

 

10. [Dezember 1910, Sonnabend] Gestern Abend lernte ich P. kennen. Urbani-Keller mit P., E. und Luigi. 4 ½ Jahre waren sie zusammen.!

Heute waren P. und E. lange zusammen. Was können sie miteinander gesprochen haben - ? - Ich störte einen Frieden -

E.`s Geschwister sind sich nicht sicher, was sie von mir halten sollen. E. selber ist sich nicht klar, ob ich nicht vielleicht zu unbedeutend bin. Sie sagte heute Abend das Wort „überragend“ in einem Sinne, der etwas gegen mich hatte. Die Vorstellung, jetzt immerfort mit mir sein zu müssen, drängt sie dazu, überkritisch mich zu betrachten. Das macht mich etwas kribbelig.

 

13. [Dezember 1910, Dienstag] Vorgestern - Sonntag Nachmittag - hinter Dornbach durch den Wald gegangen. Deutsche Landschaft: Buchen u. trübes klares13 Wetter. Als es schon dunkel war, durch Wald und Schonung hinab.

Gestern erst um 5 zusammen. Unüberlegt in der „Birn“14 gegessen. P. kam. Arge Verstim-mung der Geschwister.

Heute Abend halb privates Konzert. Neue Art des Beisammenseins. Nachher durch die Stadt, über Musik und Malerei gesprochen. Kritik meiner Gesichtsbewegungen.

Warum muss E. morgen noch einmal mit P. zusammen kommen? Sie konnte mich nicht klar ansehen, als sie mirs sagte.

 

15. [Dezember 1910, Donnerstag] E. u. ich zankten über Rauchen gestern. Zuletzt musste ich einsehen, dass E. von uns beiden das grössere Recht hatte, ungehalten zu sein.

 

20. [Dezember 1910, Dienstag] Berlin. Liebe Elsa - ich habe ein starkes und frohes Gefühl in mir.

Am 15. Abends zog E. in die Birn. Am 17. gegen Abend zusammen Koffer gekauft. Bis spät mit E.. Sonntag, 18. Dez., Matschwetter. Nachmittag mit E. bei E. Lang. Bis spät in die Nacht mit Elsa.

Montag früh brachte E. mich zur Bahn. Freudiger Abschied.

Heute durch die Sezession - ich mag nichts denken als allein E.. Abends bei Kühne.15

 

22. [Dezember 1910, Donnerstag] Kühne gefielen meine Bilder.

Jaderberg. Ich fürchte mich vor der Vorstellung, Du könntest mir entrissen werden, wenn ich nicht bei Dir bin.

 

 

1911

 

5. Jan.[uar] 1911 [Donnerstag] Nächste Woche Ausstellung meiner sämtlichen Arbeiten in Oldenburg.16

 

10. Jan.[uar 1911, Dienstag] Las alle Briefe von E.. Das Ungewisse, das mir in Berlin bevorsteht, verwirrt mich.

Elsa ist prächtig - unser Leben muss ein ganz gesundes und bewusstes werden.

 

13. Jan.[uar 1911, Freitag] Von ½ 11-7 Fahrt nach Berlin. Morgens in der Sonne als sie aufging. Die ganze Fahrt Sonne.

 

14. (Januar 1911, Sonnabend] Gestern Abend der rasche Entschluss. Es war furchtbar. Um ½ 4 im Bett.

Um 8 Uhr früh auf Wohnungssuche durch die grosse trübe Stadt. Völlig niedergedrückt: gestern Abend, Das Suchen, die Hast der Menschen, mein Ich....

 

Das Weitere in Berlin: Schreckliches Wohnen. Suchte durch eine bunte Tischdecke und einen delfter Perser-Teller ein wenig Schönheit ins Zimmer zu bringen. Spielte melancholisch Gitarre. Fast jeden Tag schrieb ich an E.. Zeichnete für neun Radirungen berliner Ansichten. Viel im Kupferstichkabinett.17 Abends oft bei Bartolini.18

 

Am [Lücke im Text] Abends nach Wien mit C. Grein19.

 

Am halben Berge kam - leuchtend und kräftig - Elsa mir entgegen.

 

 

 

1912

 

Maiberg, 12. Febr. 1912. Wieder taucht das Gespenst auf. Ich bin dann jedes Mal in eine Dumpfheit zurückgeworfen. Kalte Freundschaft will mich fressen. Fast Feindschaft. Arme Elsa. Könnte ich Dir etwas von meiner Art geben.

 

15. April. Elsa ist am 1. nach Wien gefahren, sich behandeln zu lassen. Du bist mein Heiligtum; meine Härte will ich Dir abbitten. Elsa - wir sind wieder in Forio. Wir gehen Hand in Hand unser Leben. Ich will Dir helfen, Deine Sorgen zu tragen und wenn Dich etwas drückt, sollst Du an meiner Brust Dich ausruhen.

 

16. Ich bekam einen Kartenbrief aus Wien mit einer Handschrift der Verwandten. Kartenbrief, also eilig geschrieben. Elsas Verwandte schrieben, warum nicht E.? Was kann das sein? Ich erschrak - ist Elsa krank geworden. - ich malte mir in einer Sekunde alles das aus, was mich am tiefsten treffen würde. Oh - Elsa - meine kleine liebe Elsa. Du meine Frau. Du wirst jetzt gesund werden, wir suchen unser Haus, unsern Garten, Deinen Garten und machen uns gegenseitig stark. - Der Brief enthielt nur eine kurze Mitteilung von der Bestellung der Fahrtermässigung.

 

18. Elsa - ich möchte immer fort Deinen Namen schreiben, als ob ich dadurch am stärksten ausdrücken könnte, wie sehr ich Dich liebe.

 

21. Mit der „Titanic“ soll ein 41 Jahre zusammen gewesenes Ehepaar untergegangen sein.20 Die Frau hat nicht in ein Rettungsboot steigen wollen, sie wollte ihren Mann nicht verlassen, - Elsa, je mehr ich Dich liebe, um so viel mehr fürchte ich mich, einmal allein auf der Welt zurückbleiben zu müssen. Die Pflicht kann mich mahnen, Du bist, wenn Elsa nicht mehr ist, für ihr Kind da, das Kind, Euer beider Kind, hat Deine Elsa genährt, es ist ein Stück von ihr, Elsa lebt weiter in dem Kinde. -

Lieber Gott, erhalte mir meine Elsa. Und mache mich gut und stark, dass Elsa nie betrübt werden kann durch mich.

Noch 24 Stunden dann sind wir wieder beisammen.

 

18. Juli, Varea. Elsa schläft. Vielleicht träumt sie von ihren zwei kleinen Hasen. Den lebendigeren zieht sie dem anderen ruhigeren vor - sie sieht ihn vielleicht sich nachlaufen.

 

19. E. ist heute für sich: nicht bei mir. Ich sagte etwas deutlich u. hart etwas von meinem Eindruck nach dem Abendessen, zusammen mit S.21 u. einem berl. Gast. E.`s Ausdruck war fremd - u. sprach über Dinge, die nicht einen fremden Menschen angehen. Seit einer Stunde, seit ich`s sagte, schweigt sie.

 

21. Sonntag. E. sprang in der Nacht im Träume auf und lief und stürzte. Ein Traum von ihren kleinen Hasen hatte sie erschreckt: sie wollte besorgt einen Entfliehenden eilig fangen. Oder die grosse schöne Raupe des Oleanderschwärmers, die wir gestern vom Fuss der Kastanie aufnahmen und in eine Schachtel in unser Zimmer stellten, schreckte sie und sie wollte vor etwas Dunklem, Ungewissen fliehen.

 

24. Elsa weinte heftig über einen ihrer kleinen Hasen, der sehr krank zu sein schien. - Am Abend sassen wir im Mondschein, wie in Forio.

 

27. Juli. Vorgestern Morgen lag der kranke Hase tot im Nest, steif, starr ausgestreckt. Elsa weinte. Zu Mittag grub ich ihm ein kleines Grab unter dem Haselnussstrauch neben der Bank gegen das Lusthäuschen hin. Am Abend ging Elsa allein und schmückte den Ort. Sie weinte bei dem leisesten Anlass.

Gestern Abend zeigte der andere Hase, der immer muntere, Zeichen von irgend einem Unbehagen. Elsa wurde sehr beunruhigt. Heute morgen verschlimmerte sich scheinbar sein Zustand; er wollte nichts trinken. Beim Mittagessen konnte E. sich nicht mehr halten, sie musste heftig weinen. So sorgsam und voll Vergnügen und Liebe hatte sie ihn gepflegt und nun schien er ihr langsam sterben zu sollen. Immerfort sass Elsa bei ihm und beobachtete alle seine Bewegungen. Von Zeit zu Zeit gab sie ihm etwas Tee und Reisbrei. Jetzt am Abend scheint er sich erholt zu haben. - Arme liebe kleine Elsa - morgen wird das Häschen wieder zu Dir gelaufen kommen.

 

4. August. Mittags sagte ich zur Schwägerin eine etwas boshafte Wahrheit: sie solle nicht wie ein Klapotez22 plappern. Elsa ist seitdem reserviert zu mir.

 

8. Jene Bosheit hat allerlei Verwicklungen verursacht. Verstimmung - bis zu Tränen und Willensauflösung letzte Nacht - wie damals in der klaren Neujahrsnacht. - Es ist eine verschiedene Art in uns - oder ists Dickköpfigkeit von mir.

Ich will, dass Elsa ruhig und glücklich sei. Es ist ein Zwiespalt auch in ihr: das schöne grosse Streben nach Klarheit und Schönheit und dawider der Dämon der Kleinlichkeit.

 

3. Oktober. Am 26. September hat Elsa ein Mädel geboren.

Montag den 10. Sept. Abreise von Varea. Elsa ging fast den ganzen Weg bis Pettau zu Fuss. Ein kleines Stück fuhr sie im Wagen. Die Eisenbahnfahrt ging ohne Zwischenfall vorüber. E. ass einige Aepfel. Von Marburg bis Graz stand ich im Laufgang und - rauchte. Elsa sass angelehnt und schlief.

In Graz gingen wir - nein wir wollten ursprünglich zu Fuss gehen, aber Elsa meinte, die Elektrische sei ungefährlich - nun - wir fuhren bis zur Herrengasse - ich kaufte dort Tabak und Cigarettenhülsen - und gingen von dort ins Café Union zu Fuss. Und dann zu Frau Hossner in der Schuhmanngasse 6. Gute, freundliche Madame - aber das Zimmer, das wir uns so freundlich und licht vorgestellt hatten, enttäuschte uns. Hatte schreckliche Möbel, war dunkel u. schmal u. zeigte unter dem Fenster verdächtig aufsteigende Feuchtigkeit. Doch wir glaubten, uns vielleicht doch drein finden zu können. - Unser gemeinsames Zimmer bis zum Beginn der schweren Wehen fanden wir Beethovenstr. 5 - Nun suchten wir jeden Tag in den Antiquitätenhandlungen nach Alt-wiener Geschirr, gingen spazieren und warteten. Es wurde schlechtes Wetter. Das kleine gut gemeinte Zimmer schien uns immer feuchter zu werden. Elsa sah mit Frau Bartsch sich das Sanatorium der Dr. Hansa in der Körblergassean. Die Madame war nicht einmal überrascht und wir bestellten dort ein schönes helles Zimmer. Nun warteten wir mit mehr Ruhe u. zuversichtlicher. Der 22. Sept. ging vorüber. Elsa badete einige Male bei einer bekannten Familie. Mittwoch Abend (25.Sept.) um 10 Uhr, als Elsa schon eine Weile im Bett lag und ich mich gerade niederlegte, stellten sich Schmerzen ein; immerfort kamen sie wieder, eine Pause, dann erneut der Schmerz. Wir glaubten dennoch, es werde vorübergehen u. versuchten zu schlafen. Aber die Schmerzen beruhigten sich nicht. Wir fingen an zu überlegen, was zu tun sei. Um 1 Uhr in der Nacht glaubten wir endlich, es sei vielleicht doch jetzt Ernst. Ich zog mich an und ging zu Frau Hossner. Die brauchte mindestens eine halbe Stunde, bis sie alles beieinander hatte. Um 2 Uhr ca. war ich wieder bei Elsa mit der Madame. Elsa hatte alles gepackt und sich zur Übersiedlung fertig gemacht. Ich holte einen Fiaker, und dann, mit E.`s Gepäck, einem Kinderkörbchen u. der Madame fuhren wir ins Sanatorium. Ich sass auf dem Bock; es regnete lau. Es war mir ein merkwürdiges Gefühl: jetzt fahre ich mit Elsa irgendwohin u. Elsa wird bald Mutter sein. Als wir ausstiegen konnte E. schon nicht mehr leicht gehen. Sie legte sich bald zu Bett. Die Wehen schienen einen normalen Verlauf zu nehmen. Um 6 Uhr ging ich in unser altes Zimmer und legte mich schlafen. Um 9 Uhr war ich wieder bei Elsa. Die Wehen hatten etwas nachgelassen u. E. hatte mehr als eine Stunde geschlafen. Bis Mittag war kein Fortschritt. Um 12 etwa begannen die Wehen heftiger zu werden. Die Madame meinte, um 5 werde vielleicht alles vorüber sein. Ich ging zum Essen, ins Café, las zappelig einige Zeitungen, immer mit dem Gefühl, jetzt leidet Elsa grosse Schmerzen. Zwischen drei und vier war ich wieder oben. Die Wehen waren immer stärker geworden und liessen meine arme Elsa kaum aufatmen. Aber in den kurzen Pausen wurde der Ausdruck der heftigsten Schmerzen in E.´s Gesicht sofort von einem Lächeln abgelöst. Dieser Wechsel machte uns heiter. - Man hatte Alles Notwendige für die Ankunft des Kindes schon bereitgestellt: die kleine Kinderwage [!] stand schon vor der Tür, die Windeln wurden warm gehalten, Wasser war zur Stelle - aber das Baby liess auf sich warten. Der Arzt meinte, es könne vielleicht noch bis zum Morgen dauern (er war am Vormittag da gewesen). Die Wehen wurden aber immer heftiger und jetzt konnte Elsa nicht mehr lächeln, die Schmerzen liessen nicht mehr los. Ich hielt E.`s Kopf und streichelte ihre Stirn, die schweissfeucht war. Um 7 Uhr ging ich zum Abendessen u. trank einen Café. Ich sitze, lese und rauche und Elsa windet sich in Schmerzen. Um 8 bin ich wieder bei ihr. Jetzt ist Ernst. Die Presswehen haben sich eingestellt. Die Madame hatte gesagt, die seien erträglicher. Aber Elsa hatte noch schlimmer zu leiden als vorher. Es war furchtbar. Ich kann solche Schmerzen nicht ausdenken. Um 9 Uhr kam Prof. Rossa. Ruhig und ermahnend, geduldig. Ich hielt, sobald die Wehen kamen, wieder Elsas Kopf, Mad. und Arzt stemmten sich gegen die Knie und hielten E.`s Hände straff. Um 10 meinte der Arzt auf meine Frage, es sei vielleicht besser, wenn ich in den letzten Augenblicken nicht anwesend sei. Ich fügte mich u. ging in ein anderes Zimmer. Dort rauchte ich viele Zigaretten, schlummerte eine kurze Weile und wartete. Es wurde 12 Uhr und ich begann unruhig zu werden. Da kam die Schwester gelaufen u. meldete: nun ists geschehen. Um ¾ 12 war ein Mädel zur Welt gekommen. Ich ging zu Elsas Bett, sie lächelte vergnügt u. erzählte, sie habe zuerst nicht glauben wollen, dass es ein Mädel sei. Das Kind sieht gut aus, nicht rot wie ein Krebs, angenehm vollwangig, hat einen tüchtigen Haarschopf, dunkle Haare u. schreit mächtig. Es wog 3,9 kg. - In den ersten 24 Stunden hat das Kind nichts zu trinken bekommen, so wollte es der Arzt. Es schrie ununterbrochen u. lutschte heftig an seinen Händen. Am zweiten Tage bekam es dreimal zu trinken. Zuerst konnte es nicht richtig saugen, jetzt trinkt es rasch u. leicht sein Quantum. Bekommt seit 2 Tagen täglich 6mal 30-50 gr.. Heute wiegt es 3,4 kg. Vorgestern hatte es ein wenig Fieber: 38,3 ° C., weil der Nabel etwas entzündet war. Heute stieg die Temperatur nicht über 36,6. E.`s T. war Morgens regelmässig 36,2-36,3 u. Abends 36,6-36,9. Heute Morgen hatte E. 36,5 u. am Abend 36,6, also bereits Gleichgewicht.

 

10. Okt.. Am Ende der ersten Woche wog das kleine Wesen 3,4 kg.. Hat etwas gefiebert (bis 38,3° C), der Nabel war etwas entzündet; erst heute ist die Schnur abgefallen. - Ist hübsch artig, trinkt gut u. schreit nicht übermässig. Vorgestern mehrere Aufnahmen gemacht; morgen werde ich wissen, ob sie gut sind. Elsa ist gesund und sieht gut aus. Empfängt seit vorgestern Besuche.

 

11. Elsa eine Stunde im Sessel, im schön geblümten.

 

12. Über Mittag Elsa ausser Bett. Um 4 Uhr, als ich vom Essen kam, sass E. noch auf. Ich musste sie ins Bett schicken.

 

13. Sonntag. Von 11 Uhr bis nach dem Abendessen Elsa in Kleidern. Zwischendurch etwas auf dem Bett gelegen. Die ersten Gehversuche. Man sieht deutlich, dass das Gehen wieder gelernt werden muss. Unsicher mit suchenden Armen.

 

14. ½ 4 Nachmittags Übersiedlung in die Blumengasse. Ein peinlicher Gegensatz: Von der Freiheit ins Philistertum.

 

15. 8.10 fuhr ich mit Personenzug hierher. Elsa ist nun allein. Das Kind wird sie unterhalten.

Varea, 22. Okt. Am Samstag d. 19. X. Elsa vom Bahnhof abgeholt. Frau Haubenhofer, die gerade ohne Pflegedienst, für gute Luft, Trauben u. Aepfel Elsa hierher begleitete, beaufsichtigt und badet die Kleine und macht E. noch ein wenig sicherer im Umgang mit ihrem Mäderl. Reist übermorgen ab. Am 14. Okt im Sanatorium noch einige Aufnahmen gemacht. E. im Sessel, das Gör auf der Waage, das Zimmer.

Seit einigen Tagen hat die Kleine etwas Ausschlag im Gesicht; sieht unschön aus; verschwindet jetzt.

Kleiner Spaziergang im Regen.

 

Grinzing, Himmelstr. 57.23 17. Nov. 1912. Fünf Tage schon allein in unserer Wohnung. Lieb`, ich spreche immerfort mit Dir. Seit einigen Wochen lacht das Mädel. Am Morgen vor dem Bad schaut es unerhört vergnügt drein. Ebenso beim Abtrocknen.

 

18. Nov. Ich wünsche ohne Unterbrechung Elsa herbei.

 

19. Elsa, lass mich nicht so lange ohne eine Nachricht. - Liebste Frau!

 

20. Ich fühle, dass ich Dich tief, ganz und warm liebe, meine Elsa. Ich bin Dir dankbar, dass Du Vertrauen zu mir hast und mir sagst, dass Du mich liebst. - Ich will für Dich arbeiten u. etwas machen, was ich ungern tue, wenn es sein muss. Es soll Dir gut gehen, Du sollst vergnügt sein. Du musst nur Geduld haben mit mir u. mir helfen, meine bösen Teufel zu verjagen.

 

21. Vor zwei Jahren waren wir in Triest - - - .

 

22. Elsa, ich bin bei Dir.

 

23. Heute um 12 ¼ am Mittag vor zwei Jahren standen wir unter der Linde von St. Veit. Schnee lag u. blendende Sonne ringsum. Auch heute war es ein sonniger Tag. Jetzt - es ist 11 Uhr - ist heller Vollmond u. die Landschaft sieht aus wie bereift.

Ich bin froh, Elsa, vielleicht kannst Du bald reisen.

Unser Mädel etwas krank gewesen, Verdauungsstörung. Seit drei Tagen keine Nachricht.

 

Sonntag, d. 24. Nov. Ich gehe früh schlafen, um desto rascher einen Brief zu haben.

Liebeste Elsa - mein kleines Kindchen - gute Nacht; ich streichle Deine Hände und ich küsse Deine Stirn - küsse Dich - Du.

 

4. Dez. Wann kommst Du, meine Arbeit ist fertig?

 

6. Ich mag nicht schlafen gehen, die Erwartung treibt mich hin u. her. Du willst vielleicht morgen kommen. Es ist mir, als wolltest Du erst jetzt meine Frau werden. - - Ich will Dir sagen, dass ich Dich liebe, will Dich auf meine Kniee ziehen und Deine schöne Stirn küssen.

 

8. Sonntag 6 ¼ Abends. Telegramm: Elsa kommt. Vor zwei Jahren heute sagte mir Elsa, sie gehöre zu mir.

 

25. Dez. Erster Weihnachtstag in unserer Wohnung. Einen kleinen Christbaum mit fast zu vielen Lichtern, vergoldeten Nüssen und Goldlametta. Unser Mädel schrie, bis wirs zum brennenden Lichterbaum stellten; es schaute u. war ganz ruhig; Elsa spielte auf er kleinen Spieldose.

 

 

 

1914

 

5. August 1914. Varea. Es giebt noch immer seltene Stunden (durch die hervorgerufen auch Tage) in denen sich ein merkwürdiger Trotz zwischen uns stellt. Ich bin jetzt wenigstens so weit, dass ich nach solchen Stunden, um Erlösung zu bringen, den Mund auftue. Meist wirds besser dadurch, - nicht immer. - Sicher ist, dass ich nur kurze Zeit darunter leide, Elsa aber in Nervosität und Krankheit zerfällt. Elsa ist körperlich zu schwach, um durch ihren Willen dieses Hineinsinken in Tragik hintanhalten zu können. Wann wird es mir gelingen, beim Entstehen dieser Verwirrungen immer ganz deutlich zu wissen: Elsa darf dem nicht ausgesetzt werden? Ich bin immer voller guter Vorsätze - aber wenn der Augenblick da ist, wo diese Vorsätze ausgeführt werden müssten, versage ich. Ich schreibe dann, wenn ich sehe, wie sich Elsa immer mehr aufregen lässt und wie sie sich verliert: diese Unbeherrschtheit an E. hasse ich. -

Ich bin ein Prediger, der von anderen Pflichten u. Selbsterziehung fordert, sich selbst aber nicht beschweren mag.

 

 

1. Okt. Gestern - die fette Kinderfrau hatte gesagt, ihre Bettdecke sei nicht schön - sagte E. zu uns, als sie wusste, um welche Decke es sich handelte: Die Decke ist aus dem Schluethenberg24 u. vielleicht nicht mehr ganz sauber, aber der Schmutz ist sehr alt, da machts nichts.

Üble Unruhe u. Unordnung im Haus macht E. dauernd nervös. Sie soll immerfort Unfrieden u. Missverständnisse wieder gut machen. Dazu noch - zwar immer seltener - ich mit meiner Dickschädeligkeit. - Wie soll E. da gesund werden. - Elsa muss darum oft weinen.

 

Mittwoch d. 16. Dez. 1914. Seit dem 1. Okt. etwa war E. schwanger. Vor 8 Tagen etwa zeigte sich eine geringe Blutung. Montag Abend kamen unerklärliche Schmerzen. Um 1 Uhr in der Nacht sagte E. plötzlich - ich hatte schon geschlafen -: jetzt ist etwas in mir geplatzt. Es kam Wasser immer mehr. Wir wurden ängstlich. Ich weckte rasch die Eltern, lief zum Fuhrmann und fuhr nach Pettau. Um 5 Uhr war ein Arzt, nach vielem Lamento vorher, hier oben. Die ekelhaften Ärzte! Als wir vor E.`s Bett kamen, war zu meinem Erstaunen E. ganz vergnügt. Wir werden ja sehen, sagte der Arzt, wusch seine Hände mit desinfizierender Seife u. gekochtem Wasser, zog einen weissen Kitttel an, krempelte die Ärmel hoch und stand dann da wie ein Schlächtermeister vor seiner Ware. E. hatte bis dahin nicht geglaubt, dass etwas mit ihr geschehen werde. - In seiner ruhigen Art flösste der Arzt sogar Vertrauen ein. Er ging ans Werk. Es war furchtbar. - Jetzt muss Elsa einige Tage ganz ruhig auf dem Rücken liegen. Bis heute kein Fieber. Gestern einmal 37,5. Noch ist die Gefahr nicht vorüber.

 

21. - Vaterle hat nicht Popotscherl25-weh, Mädi auch nicht P..., nur Mama hat P...! So sagte heute die Kleine.

 

25. Schnee, feuchter dicker Schnee draussen. E. muss immer noch ruhig liegen. Gestern trat eine neue geringfügige Blutung ein. Heute etwas erhöhte Temperatur, bis 37,6. Dazu die innere seelische Aufregung nach dem Gespräch über Treue. - Liebe Elsa - ich bin ein schwacher Mensch und ein kalter Pedant, klebe an Tifteleien und sehe nicht das warme - warme Leben, das bei Dir ist.

 

26. Am Abend ein langes sehr schönes Gespräch mit Elsa über Sterben und Zurückbleiben. - Nach Eintritt der Dunkelheit sass E. eine Stunde auf einem Stuhl.

 

 

 

1915

 

 

2. Jan. 1915. Vorgestern Abend wieder etwas Blut. Bis heute immer noch deutliche Spuren.

Sylvesterabend mit S. an Elsas Bett Bleigiessen. Ich goss etwas durcheinandergewürfelte kleine Figuren. Elsa meinte, es sei eine Schlacht. Elsa goss einen allerlei Deutungen zulassenden „etwas gefährlichen“ Aufbau: ein kleines Figürchen geht hinein in ein phantastisches Gebilde: hoher Wald od. Haus od. Tempel od. Dom, oben Wolken, seitlich ganz Flachrelief, eine schwebende zurückgegossene weibliche Figur.

 

6. Wieder eine stärkere Blutung. Elsa giebt ihrem Bleiguss eine neue Deutung: ich gehe fort von E., die traurig zurückgelehnt sitzt mit einem Knaben vor den Knien. Hinten ein Engel mit grossen Flügeln, seitlich entschwebende Seele. - Man liebt das Tragische an Orakeln. Man suchts und man findet es natürlicherweise.

 

12. Januar. Dienstag. Seit dem 6. immer stärker werdende Blutung. Heute deutliches Geringerwerden. Hoffnung, dass diese ganze 7tägige Blutung nichts als das erste Unwohlsein war.

Ich bin beim Pflegen ekelhaft schlechter Laune.

 

20. E. seit drei Tagen wieder mehrere Stunden auf. Heute das erste mal die Treppe hinunter. Als E. heute morgen auf meinen Knieen sass, sah sie aus wie ein ganz junges Mädchen, so zart war die Haut und die Schwellung der Gesichtsformen so weich u. gesund.

Böser Streit mit S.. Ich fürchte, ihre Anmassung ist unausrottbar.

Das Mädel ist bei den Grosseltern unglaublich ungezogen. Wenn wir noch lange hier aushalten müssen, wird uns das Kind entfremdet. Kontroversen mit Schwiegervater führen zu nichts Greifbarem, bartschersche Wortschwälle. Ich bin machtlos (ausser hier oben).

 

15. März Maiberg. Am 27. Febr. ist meine Sünde an den Tag gekommen.

Elsa lauschte einem Zank, den ich mit S. hatte, um, wenn etwas schlimm werden sollte, helfend einzuspringen. Dabei ist da erfuhr E. von meinem Leichtsinn.

Hilflos trat ich vor E.. - Von mir war eine schwere Last genommen u. auf Elsa senkte sich ein Alp. Wir gingen hinunter nach Pristova zur Drau. Tiefer Schmerz Elsas in den Auen. - In meinem Leichtsinn schlief der Gedanke an die Reinheit meines Lebens mit Elsa. - - Fast bin ich froh, dass diese Untreue gekommen ist. Die Tage sind plötzlich hell geworden.

 

17. Elsas Jugend, wenn sie zum Malen geht. Der schöne Sommertag.

 

25. März Elsa malt wieder. E.`s Magen od. Darm will nicht gesunden. Kleinste Aufregungen unterbinden automatisch die Verdauung.

Seit 21. herrliches Sonnenwetter ohne Wind.

Gestern unten im Graben malte E. an ihren Bäumen. Von ferne mit dem verkrempelten Strohhut wie ein altes Malweib. Die Überraschung dann, wenn man nahe ist u. das Gesicht sieht. Aus der Bulldogge wird plötzlich etwas wie die spartanische Läuferin aus dem fünften Jahrhundert.

 

17. April. Wie in Forio die ganze Zeit.26

- Heute durch einen Grant von mir Streit.

 

20. In den letzten Wochen öfter am Abend mit Elsa zum Teufelsberg. Im Gras sassen wir zusammen an den Hang gelehnt. Heute Abend in der Dunkelheit oben. Schwere Frühlingsluft, wolkenbehangen, ganz wenig nisseln [nieseln]. Ich fühlte so innig und stark meine Liebe zu E.. Jetzt muss ich nach Deutschland, irgendwelche Kriegsdienste tun. Die Buchen sind gerade grün geworden. der Kukuk ruft. Es ist ein gedrängtes Summen in der Luft.

(Anf. Febr. einige Male mit Elsa Ski gelaufen.

Mittwoch d. 27. Jan. mit Schlitten gegen Abend durch dicken Schnee u. Schneegestöber über Jarowetz zur Draubrücke bei Gregorič. Von da durch tiefen Schnee, Elsa in meinen Stapfen, ich das Kind auf den Schultern hinauf nach Marburg.

18. Febr. schrieb ich: Heute Abend Elsa und ich.)

Könnte ich die Sicherheit mitnehmen, dass Elsa bei freundlichen Menschen zurückbleibt.

 

22.27 April. Gestern die letzte Aussprache zwischen E., S. u. mir. Von morgens 10 bis Abends. Von 11 bis 2 in der Nacht noch allein mit Elsa bis zu einem friedlichen Schlaf.

Heute zu Fuss nach Pettau. Voller Hoffnung beim Wandern durch die schöne, schätzereiche Luft und hier wieder zerschmettert durch Elsas Worte. Elsa geht in ihrem Misstrauen jetzt zu weit - - ach - mein ekelhafter gedankenloser Leichtsinn. - Diese zwei Tage waren entsetzlich.

 

24. Mit Elsa nach St. Veit. In den Auen neben der reissenden gelben Drau auf einem riesigen Pappelstamm in der Sonne. Elsa und ich.

Was war gestern - - Um 11 mit Elsa nach Varea. Kleiner Streit, wachsend – immer mehr sich überschlagend – Ende – Trennung – nackte Füsse – Elsas leichtes Gehen – Versöhnung. Varea wieder grosse Trauer durch meine Gespenster – Elsa, meine arme Elsa, das sind jetzt die Letzten – übers Wagnersche wieder zurück in unser Zimmer und Glück. Zwischen 7 und 8 im Regen zurück – wir zwei.

 

25. Ich packte mit Elsa.

Elsa u. ich spazieren. E. muss immer an unsere grosse Trauer denken, an meine Unwahrheit; dass meine Augen einmal lügen konnten. Wir lagen auf einem schönen Platz voller Frühling. Vor uns die junge Krone eines frisch ergrünten Bäumchens. Ich finde nicht einmal jetzt den Weg zur bedingungslosen Gerechtigkeit. Wieviel Schmerz wäre Elsa erspart worden, besässe ich sie.

 

26. Mit Elsa zu Fuss nach Pettau. Das frische Ausschreiten Elsas - - Elsa, Du bist mein Weg.

8.15 in Wien. Im grünen Anker28 zusammen gegessen. Dann nach Grinzing.

 

27. Mit Elsa im Café Museum29 – dann Abends in Grinzing. Im Café kam E. mit einem äusserst kleidsamen Hut. Sieht wunderhübsch aus.

 

28. Um ½ 4 mit E. ins Café. Abends nach dem Abendessen in Grinzing allein mit Elsa.

 

29. Bucheinbände zusammen. Im Stadtpark30 auf einer Bank. Nachmittag in Grinzing unter dem blühenden Kirschbaum im Gras. Bis 8 Uhr Elsa u. ich allein.

Bis neun dann zusammen mit L. u. T. zusammen beim Abendessen. Dann begleitet mich Elsa hinunter. – Liebste – ich komme wieder.

Bis zum 8. Mai Abends blieb Elsa in Wien. Sonntag d. 9. war sie in Maiberg.

 

[[Von hier an bis zur nächsten Doppelklammer kommt ein unabhängiges Blatt, das sich zeitlich dazwischen schieben lässt:

 

[13. Mai 1915]

Dann wieder in Berlin eine furchtbare Zeit des Wartens. Ende März

war die Aufregung zu Ende

Die Ursache dieser Aufregungen war mein Verhältnis zu J. Feuereisen.31 Herbst 1902 lernte ich sie in Jamlitz am Spreewald kennen.32 Ihr vorauf ging ein Ruf, der die Erwartungen hochspannte. Frisch, gesund, klassisch, begabt. Die Enttäuschung war gross: ein altwerdendes Mädchen.

1903 in Viterbo u. Rom mit Lippischs Malschule lernte ich sie näher kennen. Im September ging ich nach Neapel und fühlte mich sehr einsam (Wenner33 hatte sich in Rom verlobt). In Venedig wieder Zusammentreffen mit F. Zusammen nach Arolo [?Asolo?]. Verliebte mich. Ich den nächsten Jahren manche Ausflüge in Freundschaft miteinander. Erst 1907 od. 1908 in Rom aus beiderseitiger Einsamkeit näherer Zusammenschluss. Schliesslich nach vielen gemeinsamen Weinseligkeiten sinnliches Verhältnis, das zum Sich-Vergessen führte. Wenn der Gedanke an ein mögliches Kind auftauchte, so war das kein Gespenst - weil F. ein heimliches Glück in dem Gedanken hatte. Ich hatte mich verpflichtet, durch einen Teil meines Vermögens für das Kind zu sorgen. Und als das Kind da war, zeigte sich alle Welt empört, in erster Linie Feuereisen, dass ich nicht in Liebe zu dem Kinde schmolz. Körperlich war es mein Kind - ja - aber mit meiner Seele hat es gar nichts zu schaffen. F. u. ich hatten ein „Verhältnis“, waren aber niemals, in keinem Augenblick, eine seelische Einheit. - Nun kam die meiner Gutmütigkeit abgezwungene Trauung und schliesslich die Scheidung. - Meine Verliebtheit in Lilly Lehbert, die sich in die Zeit meines sinnlichen Verhältnisses zu mit F. Fällt, ist mir nicht verständlich. L. war ein sehr starker Mensch und einsam und bedeutend jünger als F.. Meine Verliebtheit begann, bevor in mein34 Verh. zur F. die Sinnlichkeit trat. Oktober in Subiaco35. Den Winter schrieb ich unzählige lange Briefe, in denen ich mich in eine wirkliche Liebe zu L. hineinsteigerte. L. und herrliche blonde Haare. Frühling kam und Weinabende mit F.. Und dann das Kind. Herbst dann nach Berlin, wo ich L. traf. Hinauszögern der Entscheidung über unsere weitere Zukunft. Frühling dann Abschiedsbrief von ihr. Ich: empört, gekränkt, unglücklich und - befreit. Es war nichts als eine Poussiererei. Von meiner Seite fast ein Spiel, ein nicht bewusstes, mit der Seele eines wertvollen Menschen. Im Sommer darauf nach Rom, die Scheinehe mit F. - dann nahm mich der liebe Gott in seine Hände und zeigte mir ein neues Leben. Fast fünf Jahre sind seither vergangen. Viele Prüfungen sind vorübergezogen. Oft drohend und schwer. Die Letzte war die schwerste und - läuterndste.

Vor mir liegt eine Photographie: Elsa läuft springend auf einem Weingartenweg daher, vergnügt mir entgegen - - so warst Du in Forio - diese selbe Wirklichkeit ist heute eine noch viel bedeutendere - uns hat der liebe Gott zusammengeführt.

Landshut, d. 13.V. 1915]]

 

24. Mai, Pfingstmontag morgen. Landshut. Vorgestern Abend kam ein Telegramm – Im ersten Augenblick dachte ich – Elsa kommt. Der letzte Brief war vom Dienstag d. 18.; da steht noch keine Absicht einer Reiseandeutung drin. Das Telegr. war um 11.30 in Pettau aufgegeben worden u. lautete: Elsa heute Grinzing. - - Ich weiss nichts – warum fährt Elsa gerade zu Pfingsten nach Wien. Vielleicht wartest Du jetzt auf mich. – Ich glaube, wir werden sehr bald uns sehen. –

Ich sitze immer in meinem Zimmer, habe Deine Photogr. vor mir liegen, schreibe und denke – Alles bist Du, meine Elsa.

 

Ich breche von einem ganzen Stück Schokolade einen Abschnitt weg. Ich will nur dieses kleine Stück essen. Ich beisse etwas herunter – es werden meine Geschmacksnerven gereizt – ich vergesse mich und breche mehr von der Tafel ab – und ohne dass ich’s weiss ist plötzlich die ganze Tafel verschwunden. In diese Weis ist auch mein Verhältnis mit S. entstanden. Diese Widerstandslosigkeit hat mich überall, in allen Dingen, verfolgt u. geschädigt. Ein Wunsch weckt andere Wünsche ohne Aufhören, wenn ein hemmender Wille fehlt od. wenn er zu schwach ist oder durch gedankenlosen Leichtsinn beiseite geschoben wird. – Warum glaube ich jetzt mit einer lächelnden kalten Gewissheit, dass ich anders geworden bin. – Ich habe Elsas tiefen Schmerz gesehen – durch ihn ist mein bisher locker treibendes Gefühl von Verantwortungslosigkeit zusammengefügt worden – Elsa – gieb mir durch Dein Vertrauen den Glauben an das neue Werden in mir. - - Durch meine Schwäche verlor ich die Herrschaft über meine Sinnlichkeit – aber meine Liebe, meine Gemeinsamkeit mit Elsa, ist keinen Augenblick schwankend gewesen. Liebste, wenn erst Dieses Dir eine unumstössliche Gewissheit geworden sein wird, dann werden wird die Macht der hässlichen Gespenster, die Dich noch bedrohen, weichen. All das Hässliche, was ich in Worten u. taten Dir angetan habe, wird verblassen u. vergehen, weil Du weißt, dass der geringste und unerzogenste Teil meines Ichs es tat. – Ich weiss jetzt, das unsere Liebe, unsere Gemeinschaft, erst ganz vollkommen ist, wenn Du sicher glauben kannst, dass Alles was ich denke, tue und empfinde nur mit Dir sein kann. Wenn in Dir dieser Glaube lebendig geworden ist, dann wird auch mein Körper Dir wieder rein geworden sein.

 

Landshut, 30. V. 15 Sonntag. Alles, was ich in den Tagen hier denke, Liebste, gehört Dir.

Ich schrieb jeden Tag wenigstens einige Sätze an Elsa, meistens ungefähr zwei Seiten. Ich halte es an den Abenden, wenn ich müde in mein Zimmer komme, nicht aus, ohne Elsa etwas Liebes gesagt zu haben. Alle meine Zeit gehört Elsa.

Ich fing an, einige Bleistiftnotizen zu machen über das, was sich 1911 und 1913 für Uns ereignete. Ach, Elsa, wie viel Schmerzen habe ich Dir bereitet. Und immer wieder ist Dein Mut wieder hoch gekommen. Du hast eine starke Seele so wie Deine Stirn – schön und stark. Ich fange, beim Überdenken der letzten Jahre, an, zu ahnen, was ich Dir zu danken habe. Hättest Du mich nicht fallen lassen können? – Liebste, Du hast Dich nicht verloren – durch Deine innere Kraft bekamen die Wurzeln unseres gemeinsamen Lebens immer wieder neue Nahrung und sie konnten wachsen und sich ausbreiten. – Die Wunde, die ich durch meine Verfehlung unserem reinen Leben (wenn auch oft erschütterten) geschlagen habe – liebe, liebe Elsa, wird sie ganz vergehen?

Wenn wir wider zusammen sind, unsere Wohnung haben, will ich Dir meine Dankbarkeit und meine Liebe zeigen, Du sollst sehen, dass ich besser geworden bin – und wenn Du eines Tages zu mir sagen kannst: Hannes, Du bist gut – dann ist die Wunde ganz geheilt und schmerzt nicht mehr.

Ich muss mich um jeden Preis, durch Geschicklichkeit oder auch, wenn es nicht anders geht, durch ... andere Mittel, heil aus dieser meiner Kriegsdienstzeit herausbringen. Unser Stern, unser gemeinsamer Wille wird mir im richtigen Augenblick helfen. Ich bin ganz ruhig in diesem Glauben.

 

2. Juni. Elsa lässt seit drei Tagen nichts hören. – Mir ists merkwürdig – unser Stern stand heute wieder klar am Himmel – etwas drei Tage war er nicht zu sehen – und jetzt beim Hinaufblicken kam mir ohne Überlegung die Vorstellung: Elsa steht auf einem Dampfer und schaut mich an. Das würde mir das lange Schweigen in einfacher Weise erklären. Vielleicht sinnt Elsa schon auf Ausführung einer Überraschung. – Wäre nur die ewige Müdigkeit nicht. Es fehlt mir jetzt die Regsamkeit. Meine Gedanken sind ohne Ordnung.

 

3. Juni, Donnerstag, Frohnleichnam.

Elsa – wenn grosse Siege, deutsche Tapferkeit u. s. w. mich innerlichst ergreifen u. vielleicht sogar den Wunsch keimen lassen, mitzutun, so braucht nur ein kurzer leiser Gedanke an Dich zu kommen und und dieses ganze Mitgehen mit dem was Deutschland bewegt versinkt und nur ein grosses Mitleid bleibt, ein Mitleid für mit Allen, die jetzt leiden. Ich bin kein Krieger und will keiner werden.

- -

Elsa – liebe Elsa – ich überdenke meine Sünden und sehe Deine schönen klaren und so tot-traurigen Augen. Werden Deine Augen wieder ganz glücklich schauen können? Diese unseligen vier Wintermonate von der Weinlese bis Ende Februar – meine Verstocktheit, als Du in Angst um mich lebtest und immer geduldig warst in Graz als ich den Typhus hatte. Dass ich mein Innerstes versteckte und durch Theorien oder kleinen Ärger verdrängen liess, hat diese Schatten über uns gebracht.

 

[[Auch der folgende Absatz stammt von dem oben schon erwähnten Einzelblatt (13. Mai) und endet abermals mit der Doppelklammer.

 

Landshut, d. 12. Juni 1915. Bevor mein Verhältnis mit F. begann, kam mir oft der Gedanke, F. muss, um aus ihrer Einsamkeit herauszukommen und um von ihrer Furcht vor dem grossen Alleinsein befreit zu werden, ein Kind haben. Sie hatte mir einmal erzählt, ein Arzt habe ihre Augen untersucht und andeutungsweise auf eine fern drohende Gefahr, eine absolut unabwendbare, hingewiesen. Verwandte von ihr sollen erblindet sein. Ich behaupte, dass, als es zwischen uns bis zu einem Kinde kam, auch dieser Gedanke eine Rolle gespielt hat. Nicht nur das sinnliche Vergessen.

Ebenso hatte ich das Gefühl, wenn ein Kind kommt, so wird das für F. ein Glück werden. Als es kam, erschraken wir zwar, aber F.`s Augen leuchteten.]]

 

12. Juni. Ich muss ganz langsam u. nur das schreiben, was ich ganz deutlich aus meinem Gefühl heraus entwickelt habe. Was ich am 13. V. über mein Verhältnis zu Feuer[eisen] schrieb, ist nicht genügend durchdacht. Elsa machte mich aufmerksam, dass meine erste Schilderung in Forio dieses Verhältnisses wesentlich anders gewesen sei. Auch das Bild mit der Schokolade zur Verdeutlichung des Verh. mit S. ist nicht klar. Nicht durch ein Immer-mehr-wollen ist das Verh. entstanden; es konnte erst dadurch aufkommen, dass in mir das Bewusstsein von der Heiligkeit und absolut notwendigen Reinheit der Liebe zwischen Elsa und mir undeutlich und verschwommen wurde. Dieser Voraussetzung war ich mir bewusst den ersten Sommer in Forio, zur Zeit meiner Scheidung in Berlin, November-Dezember 1912 in Wien, Mai 1914 während meiner Reise durch Deutschland und jetzt seit ich wieder vergnügt und frei jeden Morgen erwache, seit dem 27. Februar. Am getrübtesten war das Gefühl dieser Notwendigkeit wenn ein kleiner oder grosser Zwist war und ich36 das Kleinliche, Boshafte und Brutale in mir nicht zurückhalten konnte. Getrübt wurde es ferner durch Etwas im Wesen Elsas – und damit fällt ein wenig Schuld, vom Schicksal gewollte, in der Ursache schwer zu bekämpfende u. damit Elsa nicht belastende, auch auf Elsa – Etwas, aus dem ich oft einen Mangel an Vertrauen herauslas. Elsa wollte immer, dass ich ihr Mut und Zuversicht zusprechen sollte und sie sah nicht, weil ich widerspenstig war oder schien, wie mich ein im rechten Augenblick gegebenes Trostwort hätte vorwärts treiben können. Ich weise ja gerne, herausplatzend, jede Hilfe zurück; aber ich brauche sie. Ich gab mich – das ist das ganze Unglück – im Ärger immer gerne in die Hände des Zufalls; in Stunden innerer Leere suchte ich nicht bei Elsa oder den Gedanken mit Elsa oder bei guten Büchern oder Bildern oder Menschen Aufmunterung, nein, ich liess mich fallen und geriet in einen Zustand von Wurschtigkeit. – Ich muss dem Schicksal dankbar sein – ich kann nicht anders, weil mein Blick wieder so klar geworden ist wie damals in Forio - , dass es so viel Schweres zwischen uns gebracht hat. Durch die Tage nach dem 27. Febr. ist mir das alte reine Gefühl von Forio unverückbar eingehämmert worden. Und Du, arme Elsa, musst deswegen so schwer leiden. Durch unser Forio glaubst Du immer wieder bei mir das Glück zu finden; Du kamst auch jetzt nach diesem Schweren wieder zu mir und hoffst. Elsa, ich bin errettet aus meiner Dumpfheit, ein nachwirkendes Versinken in sie kann nicht mehr geschehen – durch Deine reine Stirn. Du hast mir geholfen. Unser Stern muss mit mir sein bis auch Du erlöst bist.

Am Samstag den 5. Juni ½ 7 Uhr am Nachmittag ging ich von der Kaserne zur Kanzlei. Im Garten vor der Kanzlei drehte ich mich, durch etwas Unbewusstes gezogen, um und sehe plötzlich Elsa ganz unerwartet daherkommen. Ich hatte erst zum Sonntag gehofft, sie erwarten zu dürfen. Sonntag Nachmittag an der Isar vor unserem Garten. Gestern, Freitag, Abend im Garten gegessen: Hafergrütze u. Milch mit Quittengelée. Herrliche Dämmerung. Elsa mit schwarzem Tuch um die Schultern an einem Baum gelehnt auf der Bank. Marées. Vor uns über dem hohen Gras u. den Wiesenblumen allmählich die Glühwürmchen.

 

11. Juli. Körperliche Mattigkeit und Schläfrigkeit hindern mich, alle kleinen und sogar grösseren Erlebnisse zusammen mit Elsa aufzuschreiben.

Am 21. Juni war eine grosse Helligkeit in uns. Sie kam durch Traurigkeit und Kleinlichkeit und brach plötzlich hervor.

Vergangenen Sonntag waren wir auf einer Höhe bei Achdorf unter einem Kreuz.

Früher einmal rechts die Isar hinauf. Über eine Fähre hinüber. Cézanne.

Ein Abendspaziergang durch den Hofgarten zur Höhe. Berggasse hinunter.

Ein anderer Abendspaziergang zur Eisenbahnbrücke.

 

12. Gestern Spätnachmittagspaziergang durch zum Fährhaus, links auf die Höhe und einige Kilometer ins Land hinein. An Bauernblumengarten vorbei. Beide gemalt.

Samstag u. Sonntag d. 26. u. 27. Juni mit Elsa in München bei Schinnerer u. im Garten am englischen Park.

 

[Die folgenden zwei Zeilen stehen undatiert an einem Seitenanfang.]

Seit etwa 8 Tagen kochen wir zu Haus. Ich gewöhne mir dabei Bier u. Kaffee ab.

Elsa versucht eine neue Frisur; sitzt oft lange vorm Spiegel u. baut.

 

13. Gestern Abend nach dem Essen kleinen Spaziergang zu den Weiden bei der grossen Brücke. Schön u. friedlich Und dann zu Haus durch Worte allmählich eine Verstimmung, die bis heute früh zu spüren war. Wenn auch objektiv Elsa so gut wie ich mir die Schuld an solchen Reizungen zukäme, so müsste doch ich - aus dem einfachen Grunde, weil ich gesund bin u. Elsa nicht - sorgsamst bemüht sein, um diese Klippen herumzukommen. So viele schöne Stunden werden durch diese vermaledeiten Reibungen getrübt. Und nicht blos das - an Elsas Nerven zerrt`s und hemmt so das Gesundwerden.

 

16. Juli. An mir vorbei wird ein Kinderwagen geschoben. Ein kleines Mädchen liegt lutschend drinnen. Ach, Elsa - Reue, Reue!

Wenn Du mich oft so traurig anblickst, weiss ich, dass Du mich immer trotz allem lieb hast. Das wird mein Wesen einmal zurechtrichten, gesund und ganz gerade gemacht haben und meine Reue wird zu einem vorwärts gerichteten Willen geworden sein.

 

30. Juli. Am 21. dieses Buch beleidigt.

Mein Wille zu helfen ist noch viel zu schwach. Er lässt sich immer wieder unterkriegen.

Letzten Sonntag mehr als zweistündigen Spaziergang hinter Achdorf hinauf gegen Obergolding. Auf der Münchener Strasse zurück. Elsa trug Fingerhut u. grosse blaue Glockenblumen. Schön gegen die Isar. Das graue Kleid, die zwei kräftigen Farben der Blüten gegen den Fluss und die auenartige Landschaft.

 

2. August. Gestern u. vorgestern wir beide in München. In der Gegend Gern-Nymphenburg Wohnungen gesucht. Gestern Sezession, Cöster und Schinnerer. Abend ich mit Martin zurück - Elsa ungern zurückgeblieben. Jetzt warte ich - es ist 11 Uhr schon u. es giesst. Einen grossen Strauss vom Gärtner zur Freude für Elsa. - - Es ist 20 Min . über 11. Elsa kommt nicht mehr.

Es kommt oft ein schwerer Druck über mich. Ich darf nicht mehr einem Menschen sagen: Du Treuloser.

 

9. August. Wann werde ich ganz so sein, wie ich sein möchte - sein will?

Meine „Untreue“ war eine grosse Sünde. Das tat nicht ich. Ein anderer, nebeliger Geist hatte sich bei mir eingenistet.

 

13. August. Gestern Abend um ½ 12 weckte ich Elsa - ich kam von einer Nachtübung - ; aus dem schönen ruhigen Schlaf aufgestört, fasste sie erst nach und nach, dass ich etwas sagen wollte. Elsa fragte: giebts was Neues?, ganz im Schlaf noch. Ich sagte gedrückt und dringend: ja - dann: - ich muss ins Feld. - Eine Wut packte mich , packt uns, dass es dieses Muss giebt. Es muss sein und darum bin ich ruhig. Ich habe nicht ein Gefühl, als könne mir etwas geschehen. - Es ist so traurig, gezwungen auseinander gehen zu müssen. -

Heute Nachmittag und Abend Elsa und ich im Gartencafé und hier auf unserm Zimmer. Unsere Liebe bleibt, sie begleitet uns durch alle Tage.

Unser Leben ist noch nicht vollendet. Elsa, liebe kleine Elsa.

 

1 Das Datum 1910 wurde handschriftlich verbessert aus 1912.

2 1906 gegründeter Wiener Weinkeller.

3 Das ist Luigi Kasimir (1881-1962), als Graphiker bedeutsam; heute für sein künstlerisches Werk geschätzt. Seine Beteiligung an Arisierungskäufen hat seinen Namen in den letzten Jahren in Misskredit gebracht.

4 Neben der Wiener Secession war der 1900 gegründete Hagenbund die bedeutsamste österreichische Künstler-Vereinigung; seine Kokoschka-Ausstellung 1911 löste einen Skandal aus. Als Ausstellungsstätte diente ein abgeschlossener Teil der Zedlitzhalle, einer Markthalle in der Wiener Innenstadt, deren Rest weiterhin zum Verkauf von Obst und Gemüse genutzt wurde. Parallel zur Secession fanden in diesen Räumen zahlreiche Ausstellungen statt, wobei der Hagenbund anfangs noch für einen gemäßigteren Stil gestanden hatte.

5 Otto Hettner (1875-1931), Maler und Graphiker, als Lehrer an der Dresdner Kunstakademie einflussreich.

6 Gustav Klimt (1862-1918), bedeutender Vertreter des österreichischen Jugendstils; vermutlich schätzte Elsa ihn, während Jan ihm ablehnend gegenüberstand.

7 Paul Cézanne (1839-1906); hier war es vermutlich Jan, der ihn sehr schätzte, und Elsa, die ihn eher skeptisch bewertete.

8 Bei P., dem mehrjährigen Verlobten von Elsa Kasimir, handelt es sich nach einer Erinnerung von ihrer Tochter Ruth Krjukov-Oeltjen um Edgar Paulsen. Paulsen studierte in Kiel und promovierte dort über einen „Beitrag zur Kenntnis der Harze“.

9 Die 1903 im Unteren Belvedere gegründete Moderne Galerie war die erste staatliche Kunstsammlung Österreichs und erwarb später auch Werke von Oeltjen.

10 Der „Weinort“ Sievering, im Nordwesten von Wien am Wienerwald gelegen, wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts in Wien eingemeindet und war ein ausgesprochen beliebtes Ausflugsziel.

11 Verbessert aus 10.

12 Das Bürgertheater, eine der großen Wiener Bühnen, wurde seit 1910 als Operettentheater genutzt.

13 Der Widerspruch zwischen trüb und klar ist offensichtlich, der Text bietet aber keine andere Lesung an.

14 Das ist das bekannte Wiener Gasthaus und Tanzlokal „Goldene Birne“, das Robert Musil in der Novelle „Der Vorstadtgasthof“ literarisch bearbeitete.

15 Vermutlich Walter Kühne (1875-1956), mit Oeltjen aus gemeinsamen Studienzeiten bekannter Künstler, dessen Vermögen ihm bis zur Weltwirtschaftskrise der 1920er ein unabhängiges Leben ermöglichte.

16 Diese Ausstellung in der Oldenburger Kunsthandlung Oncken wurde in der Literatur bislang auf 1910 datiert.

17 Das Berliner Kupferstichkabinett, eine der bedeutendsten graphischen Sammlungen der Welt, befand sich damals noch im Obergeschoss des Neuen Museums.

18 Konnte nicht ermittelt werden.

19 Konnte nicht ermittelt werden.

20 Die Titanic sank in der Nacht vom 14./15. April 1912. Das Ausmaß der Katastrophe beschäftigte in den Wochen danach weltweit die Presse.

21 Möglicherweise Sylvia Kasimir, die Schwester von Elsa.

22 Besondere Form der Vogelscheuche, heute Wahrzeichen des steirischen Weinlandes: ein hölzernes Windrad, an dem Metallhämmer befestigt sind, die bei jeder Umdrehung auf ein Schallbrett schlagen.

23 Grinzing ist ein Vorort im Nordwesten Wiens am Wienerwald, der erst Ende des 19. Jahrhunderts eingemeindet wurde.

24 Konnte nicht ermittelt werden.

25 Diminutiv für Gesäss.

26Forio auf Ischia war der bevorzugte Urlaubsort des Paares und ein Synonym für glückliche Stunden.

27 Verbessert aus 21.

28 Das Restaurant „Zum Grünen Anker“ befand bzw. befindet sich in der Wiener Innenstadt (Grünangergasse) in der Nähe zahlreicher Kunsthandlungen.

29 Eines der bedeutenden Wiener Kaffeehäuser, 1899 von Adolf Loos eingerichtet. Entsprechend der für revolutionär erachteten Einrichtung avancierte das Cafe Museum als „Café Nihilismus“ schnell zum Treffpunkt der Wiener Avantgarde.

30 Nach Abtragung der Stadtmauer Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Parkanlage im englischen Stil.

31 Johanna Feuereisen, baltendeutsche Malerin. Nach der Ehe mit Jan Oeltjen verliert sich ihre Spur; in den 1930er Jahren kopierte sie in Berliner Museen Alte Meister.

32Franz Lippisch (23.1.1859-1941), als Maler Schüler von Karl Steffeck; er betrieb in Berlin eine private Malschule, die auch zur Vorbereitung für die akademische Ausbildung besucht werden konnte. Mit seinen Schülern besuchte er wiederholt Italien; in Jamlitz (Spreewald/Niederlausitz) hatte er eine Künstlerkolonie gegründet.

33 Albert Wenner (1879-1962), Schweizer Maler; er wollte (wie Oeltjen) ursprünglich Architekt werden und studierte in München und Berlin (wie Oeltjen bei Franz Lippisch). Anschließend Schüler von Hodler.

34 Überschrieben aus: das.

35 Ort in Latium, bedeutendes Benediktinerkloster.

36 Das Wort „ich“ wurde zwar von Oeltjen gestrichen, nachträglich wurde diese Streichung durch darunter gesetzte Punkte wieder getilgt.

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